Santiago - Was dann?

Warum ist das wohl so? Einen langen Pilgerweg zu gehen, bedeutet fast zwangsläufig, zur Ruhe, zu sich selbst zu kommen und neue Kraft zu schöpfen. Bei längerem Unterwegssein stoßen wir langsam eine Tür auf, die nach innen führt. Sie ist zwar nicht wirklich verschlossen, aber durch vermeintlich unverzichtbare Dinge des Alltags häufig verstellt. Doch durch die Zeit, die uns der Weg schenkt, wenden sich Pilger beim Gehen nach innen, beschäftigen sich auch mit religiösem und spirituellem Gedankengut. Wenn es gelingt, die hierbei gewonnenen Einsichten in den Alltag hinüberzuretten und die Tür offenzuhalten, beginnt zu Hause wirklich ein neuer Lebensabschnitt. Es fällt leichter als vorher, eingefahrene Geleise zu verlassen und nötige Veränderungen „anzugehen“. Wir haben öfters erlebt, wie auf den langen Tagesetappen neue Lebenskonzepte entworfen, mit Pilgerfreunden durchgesprochen und nach der Pilgerreise in die Tat umgesetzt wurden.

Auch uns hat der Weg geprägt, die Einstellung zum Leben verändert, uns ruhiger und gelassener werden lassen. Wir nahmen uns vor, nicht nur die Erinnerungen an den Jakobsweg zu pflegen, sondern auch zu versuchen, den einmal begonnenen Weg weiterzugehen und wo nötig, etwas im eigenen Leben zu ändern.
Für die Pilger im Mittelalter stellte die Ankunft in Santiago nur die Hälfte der Pilgerreise dar. Sie wussten, dass sie die Strecke wieder zu Fuß zurückgehen mussten, wenn sie angekommen waren, und dass damit nur die halbe Arbeit geschafft war. Und der Heimweg war schon ein Teil der Alltagsbewältigung und stand im Verbund von Körper und Seele.
Wir heutigen Menschen haben es scheinbar leichter. Wir können mit dem Auto oder dem Zug zurück fahren und dabei die vertrauten Landschaften des Jakobswegs nochmals an uns vorbeiziehen lassen. Zu Hause begrüßen uns Verwandte und Freunde und wir freuen uns, sie wiederzusehen, ihre Fragen zu beantworten und aus übervollem Herzen von den Erlebnissen und Erfahrungen auf dem Jakobsweg zu erzählen. Das hilft uns über die ersten Tage hinweg. Vielleicht vermissen wir das abendliche Wäschewaschen, aber schon nach kürzester Zeit bedienen wir uns gerne wieder aus dem vollen Kleiderschrank. Nur morgens beim Aufwachen ertappen wir uns hin und wieder dabei, zu überlegen, welche Strecke wir heute zu gehen haben. Körperlich sind wir also wieder anwesend, doch die Rückkehr der Seele gestaltet sich schwieriger. Sie ist den neuen Geschwindigkeiten nicht gewachsen, kann sich nur im Rhythmus des Gehens bewegen und benötigt für den Rückweg ebenso lang wie für den Hinweg. Wohl daher entpuppt sich das Heimkommen als verwirrender und schwieriger als das Weggehen. Wir müssen Geduld mit uns aufbringen, bis unsere Seele nachkommt und wir die auf dem Weg gewonnen Erkenntnisse auch umsetzen können.

Uns wurde bei der „Nachlese“ zu Hause, beim Reflektieren und nochmaligen Verarbeiten der Erfahrungen und Begegnungen auch bewusst, dass der Stoff des Jakobswegs vielschichtiger ist und seine Spiritualität tiefer reicht, als man das bei der ersten Pilgerreise erfassen kann. Und wir verspürten nach einiger Zeit den Wunsch, die Erlebnisse auf dem Jakobsweg zu vertiefen, Orte aufzusuchen, für die beim ersten Mal keine Zeit blieb und die schmale Linie des Jakobsweges, auf der wir uns alle nach Santiago bewegen, ein wenig zu vertiefen und zu verbreitern. Es begann alles ganz harmlos: Mit unserem California-VW-Bus (Cali) machten wir uns auf den Weg nach Moissac in Südfrankreich, um ein paar Tage auf dem Jakobsweg zu wandern und uns vor allem den alten Kreuzgang anschauen, von dem wir schon viel gehört hatten, der aber auf unserer Pilgerreise geschlossen war. Und unser erster Weg führte in die Abteikirche von Moissac:
Nur das Tympanon und der Kreuzgang sind aus der romanischen Zeit erhalten. Doch allein sie lohnen den Besuch tausendfach. Allein die große Endzeitdarstellung auf dem Portal aus der Offenbarung des Johannes kann man stundenlang anschauen und findet immer wieder neue Details. Und schon hier tut sich die erste Querverbindung auf, in den Norden Spaniens, die Cees Noteboom so treffend beschrieb: „Was als Wort das Kloster verließ, vor dem ich jetzt stehe, kehrte Jahrhunderte später, als steinernes Bild wieder nach Spanien zurück“. Er stand wohl vor dem Kloster Santo Toribio de Liébana, nahe am heutigen Camino del-Norte. Dort schrieb der Mönch und Abt des Klosters Beatus im 8. Jh. seinen berühmten Beatus-Kommentar, die Erläuterungen zur Offenbarung des Johannes. Und fast wortwörtlich kann man hier in Moissac den Apokalypse-Kommentar als steingewordene Bilder auf dem Tympanon oder den Kapitellen bewundern.
Unser nächster Weg führte also ins mittelalterliche Kloster Santa Toribio de Liébana in den Picos de Europa. Hier sind die Illustrationen zum Apokalypse-Kommentar ausgestellt. Zur Zeit des Beatus war ja der Norden Spaniens frei, während der größte Teil des Landes von den Arabern besetzt war. Und ganz in der Nähe von hier, in den asturischen Bergen bei Covadonga begann im Jahr 722 die Reconquista, die Rückeroberung Spaniens für das christliche Abendland. Heute ist Covadonga ein Nationalheiligtum, denn hier errang der erste König von Asturien Pelayo, im Jahr 722, einen ersten Sieg über die Mauren. Es sollte noch über 700 Jahre dauern bis zur endgültigen Vertreibung der Muslime aus Spanien …
Wir aber waren mittendrin in der spannenden Geschichte und den Kunstschätzen Spaniens …
Von Covadonga nach Granada und Cordoba führte unser Weg, dann wieder zurück nach St. Miguel de Escalada bei León, zu den westgotischen Kirchen in der Nähe von Burgos und zum Nationalheiligtum Montserrat. Immer mehr interessante Spuren taten sich auf, die es zu verfolgen gab und die natürlich auch bis nach Südfrankreich führten.

So sind wir seit 15 Jahren kreuz und quer in Frankreich und Spanien unterwegs, zu Fuß, mit unserem VW-Bus und einem kleinen Motorrad, mit dem wir die Anfahrtswege zu den Pilgerwegen verkürzen können. Und wir lernten nicht nur die Küsten, sondern auch das Landesinnere mit seinen wunderschönen und vielfältigen Landschaften immer besser kennen. Beginnend mit dem Jakobsweg und der Reconquista Spaniens erfuhren wir eine ganze Menge über das Mittelalter in Spanien und Frankreich, lernten den romanischen und gotischen Stil der Kathedralen und Klöster kennen und lieben und haben dadurch auch vieles über die Geschichte Europas erfahren.
Dieser unser Weg ist nur einer von vielen, um den Jakobsweg nach der Rückkehr zu verarbeiten, es gibt viele andere, vielleicht sorgt Jakobus dafür, dass jede(r) Pilger(in) den ihren/seinen findet.
Wir werden an dieser Stelle immer wieder einmal von unseren Lieblingsorten, Landschaften, Kirchen und Klöstern in Text und Bild berichten und vielleicht dazu beitragen, dass auch Ihre/Deine Linie des Jakobsweg immer tiefer und breiter wird. Liebe Pilgerschwester, lieber Pilgerbruder, schauen Sie einfach ab und zu mal herein, wenn Sie mögen!